Hilfsschule

Die Hilfsschule im Nationalsozialismus

von Kirsten Knaack

6.3.5. Nachgewiesene Sterilisationen von Bergedorfer HilfsschülerInnen

Es wurden von mir 14 Stichproben aus den Akten des EGG Hamburg eingesehen, jeweils von 7 Männern und 7 Frauen [90]. Bei 5 Männern und 7 Frauen wurde eine Unfruchtbarmachung durchgeführt aufgrund der ‚großen Wahrscheinlichkeit, daß bei eventuellen Nachkommen Erbschäden vorliegen‘ würden. Alle 14 Anzeigen beim EGG wurden vom Bergedorfer Amtsarzt Prof. Dr. Albert Bohne gemacht, von dem im nächsten Kapitel noch die Rede sein wird; teilweise gingen auch zwei Anzeigen für eine Person ein, z.B. zusätzlich von dem Arzt eines Kinderheimes, in dem der/ die betreffende Jugendliche wohnte. Bis auf eine Unfruchtbarmachung (der Mann war ins Ruhrgebiet geflohen) wurden alle im AK St. Georg im Zeitraum von 1935-1941, wobei der Schwerpunkt in den früheren Jahren lag, ausgeführt.
Die Hilfsschulbögen wurden in allen Fällen in die Beurteilung mit einbezogen.
Im Folgenden sollen einige Beispiele genauer dargestellt werden.


6.3.5.1. Sterilisation aufgrund geistiger Behinderung

Die Schülerin Z, geb. 1919, besuchte die Hilfsschule Bergedorf bis 1934, Kl. 2. Sie war kränklich, machte aber stetige leichte Fortschritte und wurde bis 1933 nicht negativ beurteilt. Am 16. März 1933 schrieb Lehrer Schäfer: „Z hat sich wenig erfreulich entwickelt. Die geringen Fortschritte (...) sind die Früchte eines gewissen Drills; sonst steht das 13jährige Kind auf dem geist. Niveau eines schwachen sechsjährigen.“ Später heißt es gar: „Bei Z zeigten sich im letzten Schuljahre deutliche Anzeichen von Kleptomanie.“ und im Schlußurteil Schäfers: „Z ist Psychopathin mit kleptomanen Anlagen. der Tragweite ihres ungesetzlichen Handelns ist sie sich kaum bewußt.“ [Rechtschreibfehler i. Orig.]
Gleich nach der Schulentlassung stellte Dr. Bohne am 18.05.1934 (AZ 1809/34) einen Antrag auf Sterilisation beim EGG. Die Eltern waren angeblich damit einverstanden. Da Z körperlich noch nicht genug entwickelt war, wurde der Entschluß um 2 Jahre aufgeschoben. 1936 wurde die Sterilisation vom EGG abgelehnt. Ein Kollege Dr. Bohnes legte jedoch Beschwerde gegen diesen Beschluß ein; das EGOG entschied 1937 auf weitere zwei Jahre Aufschub wegen eines Herzfehlers Zs. 1939 beschloss das EGOG, dass die Sterilisation durchzuführen sei; das AK St. Georg weigerte sich jedoch aus gesundheitlichen Gründen. Am 25.04.1941 wurde die Unfruchtbarmachung jedoch durchgeführt.


6.3.5.2. Sterilisation wegen ‚Asozialität‘

Schüler Y, geb. 1920, war Mitglied einer ‚kriminellen Sippe‘. Zu den häuslichen Verhältnissen heißt es im Schülerbogen: „Die Moral in der Familie sehr anfechtbar. Mutter u. Tochter bestraft (Kuppelei) Kleine Eigentumsdelikte.“[Interpunktionsfehler i. Orig] Das gleiche Argument taucht auch unter dem Punkt der „erblichen Belastung“ auf. Drei der sechs Geschwister besuchten die Hilfsschule. Y galt als „jähzornig“ und „eigensinnig“. Dementsprechend waren die Beurteilungen der Lehrer: „Da Y im Laufe seiner Schulzeit bis Ostern 1934 3 Diebstähle begangen hat, die ihm nachgewiesen werden konnten und mehrere, bei denen er wahrscheinlich beteiligt war, schwebt gegen ihn das Fürsorgeverfahren. Außerdem haben sich die häuslichen Verhältnisse in der Familie im letzten Jahre stark verschlechtert. Die Mutter ist in Untersuchungshaft wegen Kuppelei; die ältere Schwester X, die auch unsere Schule besucht hat, soll wegen sexueller Vergehen in Straferziehung kommen. (...)“
Im Schlussurteil Schäfer: „Das Betragen Ys ließ oft zu wünschen übrig. (...) In der Klasse störte er viel. (...)“
Auch die Bögen seiner beiden Brüder, die die Bergedorfer Hilfsschule besuchten, haben ähnliche Inhalte.
Der Antrag auf Unfruchtbarmachung wurde am 18.05.1934 wegen Familienkriminalität gestellt (AZ 1736/35). Außer den Schülerbögen wurden die Fürsorgeakten der Familie in die Entscheidungsfindung einbezogen. Am 02.08.35 wurde die Sterilisation beschlossen, knapp zwei Wochen später legte der Vater jedoch Beschwerde ein. Das EGOG setzte die Entscheidung für ein Jahr aufgrund der Spätentwicklung Ys aus. Am 08. Januar 1937 wurde die Beschwerde dann, nach Einsicht in die Erbgesundheitsakten, den Strafbogen der Mutter, Akten der Trinkerfürsorge und des Jugendamtes, sämtliche Schülerbögen der Geschwister sowie Ys Schülerbogen, zurückgewiesen. Im Urteil wurde vermerkt, dass der Inhalt der Schülerakte einen relevanten Einfluß auf das Urteil gehabt hätte.
Im Übrigen wurden für sämtliche Geschwister Anträge auf Unfruchtbarmachung gestellt; sicher ist, dass Ys Schwester X 1935 wegen Triebhaftigkeit sterilisiert wurde.


6.3.5.3. Sterilisation trotz positiver schulischer Begutachtung

Schülerin N, geb. 1914, wird in ihrem Schlußurteil am 19. März 1929 von Schulleiter Matthiessen positiv beurteilt: „N hat sich in der Hilfsschule recht gut entwickelt. Sie liest fließend und hat eine gefällige Handschrift. nur im Rechnen ist sie sehr schwach. Im Verkehr mit ihren Mitschülern war sie immer bescheiden u. verträglich und ihrem Lehrer gegenüber von großer Anhänglichkeit u. Zutraulichkeit.“ Nirgends in ihrer Schulakte wird Negatives über sie vermerkt. Dennoch stellt Dr. Bohne am 04.02.1935 einen Antrag auf Sterilisation (AZ 310/35); das EGG entscheidet am 11.03.1935 dafür; am 25.04.1935 wird die Operation durchgeführt. Da einzig Papiere der Wohlfahrt, außer dem Schülerbogen, in die Entscheidungsfindung einbezogen wurden, ist davon auszugehen, dass N nur aufgrund ihres Hilfsschulbesuchs für ‚schwachsinnig‘ im Sinne des GzVeN erklärt wurde.
In einem anderen Fall waren im Schulbogen eines Mädchens keine negativen Bemerkungen, außer eine nachträgliche Anmerkung, dass sie ein uneheliches Kind hätte. Auch sie wurde unfruchtbar gemacht.


6.3.5.4. Ablehnung der Unfruchtbarmachung durch das EGG

Für den Schüler O, Jahrgang 1909, wurde der Antrag auf Unfruchtbarmachung (AZ 2222/36) am 09.10.1936 vom EGG abgelehnt. Begründet wurde das Urteil mit seiner zufriedenstellenden Leistung im Beruf und der positiven Beurteilung im Hilfsschulbogen. Diese lautete: „Hamburg, den 1.4.1924 O hat sich während der vierj. Hilfsschulzeit als ein überaus gutmütiger Junge gezeigt, der in den einzelnen Fächern dazu durchaus Genügendes leistet; begabt war er bes. für alles Handwerkliche. Wenn er genügend Willenskraft hat, wird er bei seiner Anstelligkeit wohl gut durchs Leben kommen. (...) Matthiessen, Hilfsschulleiter“

[90] Es ist auf jeden Fall von einer höheren Anzahl von Unfruchtbarmachungen bei Bergedorfer HilfsschülerInnen auszugehen- die Anfragen des EGG nach den Schülerbögen, die in zahlreichen Schülerakten noch aufzufinden waren, läßt dies vermuten-; die Anzahl der Unfruchtbarmachungen ist aufgrund des nicht vollständigen Erhalts der EGG- Akten nicht zu ermitteln.

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