Hilfsschule

Die Hilfsschule im Nationalsozialismus

von Kirsten Knaack

1.1.8. Fritz Lenz

Nach dem ‚verlorenen‘ Ersten Weltkrieg erlebte die Katastrophenstimmung der deutschen Rassenhygieniker einen neuen Höhepunkt (vgl. Drechsel, S. 126 ff.). Hier erschien 1921 das als „Baur/ Fischer/ Lenz“ berühmt gewordene Lehrbuch „Grundriß der menschlichen Erblichkeitslehre und Rassenhygiene“ des Pflanzengenetikers Erwin Baur (1875-1933), des Anthropologen Eugen Fischer (1877-1967) und des Mediziners Fritz Lenz (1877-1976)[15].
Schon Lenz‘ Vater betrieb Zuchtversuche mit Tieren und Pflanzen, um Vererbungsfragen zu erforschen.
Er studierte Medizin in Freiburg, interessierte sich jedoch ebenso für Philosophie und verband diese beiden Themen in seinen Theorien zur Rassenhygiene. 1912 promovierte Lenz bei dem Pathologen Ludwig Aschoff (1866-1942) mit der Arbeit „Über die krankhaften Erbanlagen des Mannes und die Bestimmung des Geschlechts beim Menschen“. Schon während seines Studiums begegnete er Eugen Fischer; daraus entwickelte sich eine freundschaftliche Zusammenarbeit. 1909 lernte Lenz Alfred Ploetz kennen. Auch sie arbeiteten künftig freundschaftlich zusammen. (vgl. Becker 1988, S. 183 ff.)
Im ersten Teil des „Baur/ Fischer/ Lenz“ gab Baur einen Einblick in die allgemeine Variations- und Erblichkeitslehre, im zweiten Teil beschrieb Fischer die angeblichen Rassenunterschiede der verschiedenen Menschengruppen inklusive der vermeintlichen geistigen und gesellschaftlichen Stände von Individuen und Völkern, während schließlich Lenz im dritten Teil die „krankhaften Erbanlagen“ im Verständnis von dem „Zustand eines Organismus an den Grenzen seiner Anpassungsmöglichkeiten“ (Baur/ Fischer/ Lenz I, S. 145) behandelte. Sicher schien ihm, „daß die Erblichkeit [von „erblichen Seelenstörungen“; Anm. d. Verf.] alle anderen Ursachen an Bedeutung übertrifft“ (ebd., S. 225)[16]. Daher sah er als „Zetralproblem der Rassenhygiene“ die „Entartung“ als „die Neuentstehung und die Ausbreitung krankhafter Erbanlagen“ (ebd., S. 266). Die soziale Struktur einer Gesellschaft ergebe sich aus der (erblichen) geistigen Begabung, Fazit sei: „Es ist daher völlig hoffnungslos, durch Erziehung und Übung das Menschengeschlecht dauernd heben zu wollen.“ (ebd., S. 279) Lenz definierte den Begriff ‚Gegenauslese‘ folgendermaßen: „(...) wenn die Ausleseverhältnisse in einer Bevölkerung sich so gestalten, daß nicht die Tüchtigeren, sondern die Untüchtigeren überleben und die größere Nachkommenschaft haben.“ (Baur/ Fischer/ Lenz II, S. 7) Dem Ziel der genetischen Höherentwicklung der ‚Rasse‘ verpflichtet, entwickelte er Vorschläge zur praktischen Rassenhygiene, wie Steuergesetzgebung, Erbrecht, Wirtschaftsordnung, Gestaltung des persönlichen Lebens; Einführung der Rassenhygiene als Pflichtfach für angehende Mediziner, Volkswirtschaftler, Juristen und Erzieher (vgl. ebd., S. 174) sowie die Einrichtung rassenhygienischer Forschungsanstalten (vgl. ebd., S. 175) und die „fortlaufende [n] medizinalstatistische[n] Registrierung der gesamten Bevölkerung“ (ebd., S. 179). Zur Fortpflanzung ‚Minderwertiger‘ meinte Lenz: „Es kann gar nicht ernsthaft bestritten werden, daß die Fortpflanzung von Geisteskranken, schweren Psychopathen, Säufern, Schwindsüchtigen, Tauben, Blinden, Zuckerkranken usw. ganz überwiegend Unheil bringt. Und der Umstand, daß wir in den meisten Fällen nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit minderwertige Beschaffenheit der Nachkommen voraussagen können, bildet daher keinen vernünftigen Grund gegen die Verhinderung der Fortpflanzung Minderwertiger, sondern vielmehr dafür.“ (ebd., S. 129) Er empfahl für diese „Ausmerze“ (ebd., S. 131) die Sterilisierung[17], deren zwangsweise Durchführung er aber noch für verfrüht hielt (vgl. ebd., S. 128), die Asylierung (vgl. ebd., S. 131) sowie die lebenslange Internierung ‚gewerbs- oder gewohnheitsmäßiger Verbrecher‘ (vgl. ebd., S. 131 f.).
1931 setzte Lenz explizit seine Hoffnungen in die NSDAP, denn er begrüßte, dass Hitler „(...) die Sterilisierung nicht nur für extreme Fälle fordert, was für die Gesundung der Rasse ziemlich bedeutungslos sein würde, sondern sie auf den gesamten minderwertigen Teil der Bevölkerung erstreckt wissen will.“ (zit. nach Schmuhl, S. 48)
Er war Mitglied des Sachverständigenbeirats für Bevölkerungs- und Rassenpolitik während der NS- Zeit, der das GzVeN in seiner Form mit absegnete (vgl. Schmuhl, S. 49).

Die ‚Euthanasie‘ hielt er für nicht relevant in der Rassenhygiene, „(...) weil die dafür in Betracht kommenden Individuen ohnehin nicht zur Fortpflanzung gelangen, es handelt sich vielmehr vorzugsweise um eine Frage der Humanität.“ (Baur/ Fischer/ Lenz II, S. 132) Dabei hielt Lenz diese „(...) idiotische[n] oder schwer mißgebildete[n] Individuen (...)“ (ebd.) allerdings für grundsätzlich unglücklich.

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[15] Da das Buch aus zwei Bänden besteht, wird die Literaturangabe mit I für Band 1 und II für Band 2 im Folgenden kenntlich gemacht.

[16] In der Einleitung des Buches gaben die Autoren zu bedenken, dass eine naturwissenschaftliche Grundlage unbedingt von Nöten sei, um beispielsweise auch die Soziologie zu begreifen; darum sei ihr Buch erschienen (vgl. Baur/ Fischer/ Lenz I, S. 1).

[17] Lenz plädierte dafür, ca. 20 Millionen Menschen (1/3 der EinwohnerInnen des Deutschen Reiches), die nach Grotjahns Ansicht ‚erbuntüchtig‘ seien zu sterilisieren. Eine Überprüfung durch Amtsärzte solle diesbezüglich bei folgenden Personengruppen grundsätzlich stattfinden:

„1. bei allen schwachsinnigen Hilfsschülern zur Zeit ihrer Entlassung aus der Hilfsschule;

2. bei allen Fürsorgezöglingen;

3. bei jedem Rückfälligen oder Schwerverbrecher;

4. bei jedem Geisteskranken, der aus einer Anstalt entlassen wird;

5. bei jedem in Fürsorge stehenden Trinker;

6. bei jedem in Fürsorge stehenden Tuberkulösen;

7. bei jedem Empfänger von Armenunterstützung, dessen Unterstützungsbedürftigkeit durch Arbeitsunfähigkeit oder Arbeitsscheu bedingt ist.“ (zit. nach Schmuhl, S. 47)

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