Hilfsschule

Die Hilfsschule im Nationalsozialismus

von Kirsten Knaack

5.3. Die Durchführung des GzVeN

5.3.1. Die Einrichtung von Erbgesundheits- und Erbgesundheitsobergerichten und der Ablauf des Sterilisationsverfahrens

Das Verfahren begann mit dem Antrag, meist dem des Amtsarztes [77]; bei HilfsschülerInnen war dies der Schularzt. Über die Anträge entschieden die nach Anordnung der Landesjustizminister eingerichteten, reichsweit ca. 220 Erbgesundheitsgerichte (EGG), die den Amtsgerichten angegliedert waren. In Hamburg ordnete die Landesjustizverwaltung am 14. Dezember 1933 diesen Schritt an (Hamburgisches Gesetz- und Verordnungsblatt Nr. 124 vom 16. Dezember 1933; StAHH, 352-3 Medizinalkollegium, IIU51-000). Sie waren zusammengesetzt aus einem vorsitzenden Amtsrichter, einem beamteten Arzt sowie einem in Erbgesundheitslehre vertrauten Arzt. Die Sitzungen waren nicht öffentlich. Die Gerichte waren befugt, Ermittlungen anzustellen, Zeugen und Sachverständige zu befragen und den zu Sterilisierenden vorführen und ärztlich untersuchen zu lassen. Die Berufung gegen Beschlüsse war möglich, die endgültige Entscheidung trafen dann die den Oberlandesgerichten angeschlossenen Erbgesundheitsobergerichte (EGOG). War die Sterilisation angeordnet worden, musste innerhalb von zwei Wochen die Operation von einem approbierten Arzt an einer der von den obersten Landesbehörden ermächtigten Krankenhäuser durchgeführt werden. Durch das Zweite Änderungsgesetz zum GzVeN vom 04. Oktober 1936 wurde auch die Unfruchtbarmachung durch Strahlen bei Frauen erlaubt (Reichsgesetzblatt Nr. 16 vom 26. Februar 1936; StAHH, 351-10I, Sozialbehörde I, GF00.23, Band 2). Anstaltsinsassen brauchten nur bei ihrer Entlassung oder Beurlaubung unfruchtbar gemacht zu werden. Im Verfahrensverlauf konnte polizeilicher Zwang angewendet werden: Bei der Vorführung des zu Sterilisierenden beim Amtsarzt; bei dem Erscheinen vor dem EGG, ferner bei Nichterscheinen zur Operation; bei bestehender Fluchtgefahr konnte eine Zwangseinweisung vorgenommen werden (vgl. Schmuhl, S. 158).
Das Änderungsgesetz des GzVeN vom 26. Juni 1935 bestimmte, dass Abtreibungen aus eugenischen Gründen ab sofort erlaubt seien. Dies setzte aber das Einverständnis der Schwangeren voraus, das allerdings oft erzwungen oder übergangen wurde (vgl. ebd., S. 163). Die Abtreibung durfte bis zum Ende des sechsten Schwangerschaftsmonats vorgenommen werden, wenn durch den Entschluss eines EGG entschieden war, daß die Frau im Sinne des GzVeN unfruchtbar gemacht werden sollte. Dies galt für verheiratete wie ledige Frauen.
Aufgrund der bereits etablierten ‚Schwachsinns‘- Stigmatisierung von HilfsschülerInnen ist es nicht verwunderlich, daß auf sie ein besonderes Augenmerk gerichtet wurde. Im Kommentar des GzVeN wurde gemutmaßt, daß wohl 63% der HilfsschülerInnenschaft betroffen sei von ‚angeborenem Schwachsinn‘ (vgl. Schmuhl, S. 156 f.). Wenn sie das Glück hatten, dieser Diagnose zu entkommen, drohte immer noch die Gefahr, durch Arbeitslosigkeit oder wechselnde Berufe oder aber Straffälligkeit zum ‚asozialen Psychopathen‘, der ‚moralisch schwachsinnig‘ sei, zu werden und aufgrund dieser Diagnose sterilisiert zu werden, weil einem solchen Verhalten negative Erbmasse unterstellt wurde. Hamburg rechnete aufgrund der großstädtischen Verhältnisse mit etwa 35 000- 40 000 Menschen, die ‚sterilisationsbedürftig‘ waren. Daher fand zunächst eine vielfältige Propaganda (Presse, Schule, Fortbildungen, Ausstellungen, Vorträge) statt, um eine Selbstanzeige einer großen Zahl von ‚Erbkranken‘ zu erreichen (vgl. Pfäfflin, Friedemann: Zwangssterilisation in Hamburg, in: Ebbinghaus et al. 1984, S. 27). In Hamburg wurde schon vor dem Inkrafttreten des GzVeN am 01.01.1934 mit der Erfassung der in Betracht kommenden Personen begonnen. Dr. Ofterdinger, Präses der Gesundheitsbehörde, bittet in einem Rundschreiben vom 14. September 1933, das u.a. das Jugendamt erhielt: „Eine Verzögerung in der Durchführung der nach dem 1.1.34 gemäß §1 Abs. 2 des genannten Gesetzes anzuwendenden Sterilisation ist höchst unerwünscht. Ich ersuche daher, für die Sterilisation schon jetzt etwa in Betracht kommende Personen fortlaufend der Gesundheitsbehörde zu melden (...)
Ich weise besonders darauf hin, daß die leichteren Formen des angeborenen Schwachsinns besonders gefährlich sind, weil diese Personen frei herumlaufen, sich ungehemmt triebhaft vermehren und erbbiologisch erfahrungsgemäß genau so ernst zu nehmen sind, wie schwerere Schwachsinnsformen.“ (StAHH, 354-5I, Jugendbehörde I, 322; Betonung i. Orig.)
Zur Durchführung des GzVeN wurden in Hamburg folgende Krankenhäuser und ihre Ärzte bestimmt:
1. AK St. Georg; Prof. Dr. Ringle
2. AK Eppendorf; Prof. Dr. Roedelius
3. AK Barmbeck; Prof. Dr. Oehlecker
4. Hafenkrankenhaus, Prof. Dr. Brütt
(vgl. Bekanntmachung zur Durchführung des GzVeN von der Landesjustizverwaltung vom 29. Dezember 1933; StAHH, 351-10I, Sozialbehörde I, GF00.23, Band 1)
Später kamen noch das Zentrallazarett der hamburgischen Gefangenenanstalten, die Staatliche Frauenklinik Finkenau, das AK Altona, die Frauenklinik Altona, das AK Harburg, das AK Wandsbek und die Chirurgische Klinik Eilbecktal dazu (vgl. Pfäfflin, in: Ebbinghaus et al., S. 29).
Am 31. August 1939 wurde die Verordnung erlassen, dass Anträge auf Unfruchtbarmachung nur noch zu stellen sein ,wenn besondere „Fortpflanzungsgefahr“ bestünde (StAHH, 352-3 Medizinalkollegium, IIU51-100). Die Sterilisationen wurden darauf weitgehend eingestellt; bis 1945 wurden aber noch Unfruchtbarmachungen durchgeführt.

[77] In Hamburg stellten laut Schmuhl, S. 157, 61% der Sterilisierten zwar den Antrag selbst, jedoch ist davon auszugehen, dass etliche dieser Menschen vorher von den Amtsärzten unter Druck gesetzt worden waren.

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