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4. Die Entwicklung der Hilfsschule
Die Schaffung eines ‚neuen Menschen‘ erforderte eine Umgestaltung des Erziehungswesens. Das Hinarbeiten auf einen imperialistischen Krieg und auf eine ‚aufsteigende Rasse‘ musste in der Erziehung seine Grundlage finden, um die nationalsozialistische Herrschaftsicherung zu erreichen (vgl. Reinhard Kühnl: Zur Relevanz von Faschismustheorien für die Erziehungswissenschaft, in: Klein, S. 41).
Darunter fiel auch die Hilfsschule. Mit der überwiegend deutschnational geprägten SonderschullehrerInnenschaft der Weimarer Republik und spätestens mit der Entlassung der politisch missliebigen LehrerInnen durch das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ 1933 wurde die Umgestaltung kaum vor Probleme gestellt.
Die Rangfolge der Erziehungsziele sah bei Hitler so aus: „Der völkische Staat hat in dieser Erkenntnis seine gesamte Erziehungsarbeit in erster Linie nicht auf das Einpumpen bloßen Wissens einzustellen, sondern auf das Heranzüchten kerngesunder Körper. Erst in zweiter Linie kommt dann die Ausbildung der geistigen Fähigkeiten. Hier aber wieder an der Spitze die Entwicklung des Charakters, besonders die Förderung der Willens- und Entschlußkraft, verbunden mit der Erziehung zur Verantwortungsfreudigkeit, und erst als letztes die wissenschaftliche Schulung.“ (Hitler, S. 452) 1938 äußert er sich noch einmal drastisch zum Erziehungsanspruch im Nationalsozialismus: „Diese Jugend, die lernt ja nichts anderes als deutsch denken, deutsch handeln, und wenn nun diese Knaben, diese Mädchen mit ihren 10 Jahren in unsere Organisationen hineinkommen und dort nun so oft zum erstenmal überhaupt eine frische Luft bekommen und fühlen, dann kommen sie vier Jahre später vom Jungvolk in die Hitlerjugend, und dort behalten wir sie wieder vier Jahre, und dann geben wir sie erst recht nicht zurück in die Hände unserer alten Klassen- und Standeserzeuger, sondern dann nehmen wir sie sofort in die Partei oder in die Arbeitsfront, in die SA oder in die SS, in das NSKK und so weiter. Und wenn sie dort zwei Jahre und anderthalb Jahre sind und noch nicht ganze Nationalsozialisten geworden sein sollten, dann kommen sie in den Arbeitsdienst und werden dort wieder sechs oder sieben Monate geschliffen, alle mit einem Symbol: dem deutschen Spaten (Beifall).
Und was dann nach sechs oder sieben Monaten noch an Klassenbewußtsein oder Standesdünkel da oder da noch vorhanden sein sollte, das übernimmt dann die Wehrmacht zur weiteren Behandlung auf zwei Jahre (Beifall), und wenn sie dann nach zwei oder drei oder vier Jahren zurückkehren, dann nehmen wir sie, damit sie auf keinen Fall rückfällig werden, sofort wieder in SA, SS und so weiter, und sie werden nicht mehr frei ihr ganzes Leben (Beifall) (...)“ (zit. nach Nyssen, S. 31). Die Schule wird hier bezeichnenderweise nicht erwähnt.
Bereits 1933 wurde beschlossen, dass Vererbungslehre und Rassekunde in sämtlichen Schulen behandelt werden sollten, notfalls auf Kosten anderer Fächer (vgl. Nyssen, S. 85) [56]. In Hamburg verfügte die Landesunterrichtsbehörde am 15. Dezember 1933, dass sämtliche Volksschulen in der verbleibenden Zeit des laufenden Schuljahres [Anm. d. Verf.: Das Schuljahr endete Ostern] in ihren ersten Klassen [Abschlußklassen; Zählung erfolgte rückwärts; Anm. d. Verf.] die rassischen Grundlagen des deutschen Volkes sowie die politische Neugestaltung zu behandeln hätten. Im folgenden Schuljahr sollten durch einen geschichtlichen und lebenskundlichen Unterricht „Instinkt und Wille der Schüler (...) durch die Rassenkunde auf Artreinheit und (...) durch die Erblehre auf Volksgesundheit ausgerichtet werden.“ (StAHH, 361-2VI, Oberschulbehörde VI, 945 Band 1)
Am 15. Januar 1935 erließ Reichserziehungsminister Rust, dass Vererbungslehre, Rassenkunde, Rassenhygiene, Familienkunde und Bevölkerungspolitik für alle Schüler „pflichtmäßiges Prüfungsgebiet“ seien (Erlass des REM an die Unterrichtsverwaltungen der Länder; StAHH, 361-2VI, Oberschulbehörde VI, 945 Band 2).
Auch die LehrerInnenausbildung erfuhr Änderungen. 1933 wurde die universitäre Lehrerausbildung in Hochschulen für Lehrerbildung verwandelt, 1940 in Lehrerbildungsanstalten. Fächer wie Vererbungslehre, Rassenkunde, Wehrwissenschaft und Grenzlandkunde mussten von den zukünftigen LehrerInnen belegt werden.
Die Selektion zwischen den einzelnen Schulformen wurde verschärft; weniger Kinder sollten in die höheren Schulen gelangen; die Volksschule sollte eine Aufwertung erfahren [57], daher war ihre Aufgabe, potentielle HilfsschülerInnen verstärkt auszusortieren. Ein eifriger Verfechter dieser Schulpolitik war u.a. der Erziehungswissenschaftler Wilhelm Hartnacke (vgl. Nyssen S. 134 f.).
Sämtliche Schulformen erhielten eine gemeinsame Zielsetzung, nämlich die „Schüler zu charakterfesten und zum Dienst an ihrem Volke bereiten und befähigten Menschen zu erziehen.“ (Benze 1940, S. 64) In einer Rede auf einer Konferenz von Länderministern am 09. Mai 1933 fasst Reichsinnenminister Wilhelm Frick zusammen: „Die nationale Revolution gibt der deutschen Schule und ihrer Erziehungsaufgabe ein neues Gesetz: Die deutsche Schule hat den politischen Menschen zu bilden, der in allem Denken und Handeln dienend und opfernd in seinem Volke wurzelt und der Geschichte und dem Schicksal seines Staates ganz und unabtrennbar zu innerst verbunden ist.“ (zit. nach Gamm, S. 74)
Für die HilfsschülerInnen ergab sich ab 1933/34 außer der bereits vorhandenen negativen Stigmatisierung durch den Besuch der Hilfsschule das Problem der Gefahr der Unfruchtbarmachung, meist wegen ‚angeborenen Schwachsinns‘, für die geistig Behinderten nach der Erklärung ihrer ‚Bildungsunfähigkeit‘ und Ausschulung die der ‚Euthanasie‘.
An sämtlichen Schulen, wie oben bereits erwähnt, wurde fächerübergreifend Rassenkunde und Erblehre unterrichtet, damit die Erbgesundheits- und Rassengesetze auch von der Jugend als ‚notwendig‘ erkannt wurden.
In diesem Kapitel wird, bevor in Abschnitt 5 auf die Sterilisationsgesetzgebung eingegangen wird, kurz die Entwicklung der Hilfsschule von ihrer Gründung bis 1945 behandelt. Dies wird einerseits die allgemeine Entwicklung (Anzahl) der Schulen, sowie die bereits stark utilitaristisch und sozialdarwinistisch eingestellte LehrerInnenschaft während des Kaisereiches und der Weimarer Republik sein, andererseits die allgemeine Entwicklung sowie die Aufgaben der Hilfsschule ab 1933 umfassen. Aspekte des Gesamtreiches und Hamburgs werden nebeneinandergestellt oder miteinander verknüpft. Zur Komplettierung dieser Darstellung werden zwei Exkurse ansatzweise die Gleichschaltung im schulischen Bereich in Hamburg ab 1933 und die Teilnahme von HilfsschülerInnen in nationalsozialistischen Organisationen aufzeigen.
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[56] Ein interessantes Beispiel für die Durchdringung auch nicht direkt betroffener Fächer von rassenkundlichen und erbgesundheitlichen Inhalten (wie z.B. Biologie, Geschichte, Geographie, Deutsch) zeigt folgendes Beispiel zweier aneinander gekoppelter Rechenaufgaben aus einem Realschulbuch der NS- Zeit: „39. Die durchschnittlichen Baukosten einer Kleinwohnung betragen 5 000 bis 7 000 RM. 1934 wurden rund 284 000 Wohnungen gebaut. 40. Der Bau einer Irrenanstalt kostet etwa 6 Mill. RM. Wieviel Familien könnten dafür eine Wohnung erhalten?“ (zit. nach Kurt- Ingo Flessau: Schulen der Partei(lichkeit)?, in: Flessau et al., S. 76)
[57] Dabei spielte sicherlich auch der Gedanke eine Rolle, dass unter Umständen eine hohe Bildung politische Widerstandsaktivitäten verursachen könnte.
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