Hilfsschule

Die Hilfsschule im Nationalsozialismus

von Kirsten Knaack

6.2. Sozialstruktur der SchülerInnenschaft

Zur Erforschung der Sozialstruktur und des Geschlechterverhältnisses in der SchülerInnenschaft der Hilfsschule Bergedorf wurden von mir die vollständig erhaltenen Schülerakten von den Geburtsjahrgängen 1904-1939 eingesehen (StAHH, 362-10/9, Hilfsschule Bergedorf, 1 Band 1-15 (Jungen) und 2 Band 1-9 (Mädchen)).
Bezüglich der Sozialstruktur ergibt sich folgendes Bild:
n= 657

Beruf Anzahl

Arbeiter 330
Handwerker 157
Angestellter 57
Beamter 6
Arzt 2
Kaufmann 12
Polizist 3
Gastwirt 3
Bauer 13
Seemann/ Fischer 2
Invalide 3
andere 4
nicht zu ermitteln 65

Hierzu sei folgendes angemerkt: Gewertet wurde der Beruf des Vaters, da erstens die Mütter nach der Heirat meist nicht mehr arbeiteten und zweitens nur der Beruf des Vaters im Schülerbogen angegeben ist. Ausnahme sind die Fälle, in denen die Mutter alleinstehend oder verwitwet ist und daher den Lebensunterhalt der Familie bestreitet (sofern im Schülerbogen vermerkt).
Jedes Geschwisterkind wurde einzeln gewertet.Die Grenze zwischen dem Bereich ‚Arbeiter‘ und ‚Handwerker‘ verläuft fließend, weil bei handwerklichen Berufen selten angegeben ist, ob Selbständigkeit besteht. Unter die Rubrik ‚Angestellter‘ habe ich neben Büroangestellten auch Angestellte der Eisenbahn u.Ä. zugerechnet, wobei letztere deutlich in der Mehrzahl sind. Bei den Bauern handelt es sich durchweg um Obst- und Gemüsebauern, die aus den benachbarten Vier- und Marschlanden stammen.
Die hohe Zahl der nicht zu ermittelnden Berufe läßt sich daraus erklären, dass erstens etliche Väter im Ersten oder Zweiten Weltkrieg gefallen sind, zweitens einige Väter eines natürlichen Todes früh verstorben sind und drittens einige SchülerInnen unehelich waren und der Vater daher gar nicht erst auf dem Schülerbogen erschien. In den meisten Fällen, in denen der Vater verstorben war, erschien auch sein ehedem ausgeübter Beruf nicht mehr in den Bögen.
Die Zahl der Invaliden dürfte nach oben korrigiert werden müssen (meistens ebenfalls verursacht durch die Kriege), denn denn es wurde in den allermeisten Fällen der (ehemals) ausgeübte Beruf der Väter angegeben, nur in den aufgeführten drei Fällen war explizit ‚Invalide‘ vermerkt.

Die geschlechtsspezifische Verteilung der SchülerInnenschaft (getrennt nach Jahrgängen) zeigt sich wie folgt:

Jahrgang 1904-1914 1915-1919 1920-1924 1925-1929 1930-1934 1935-1939

Jungen 85 38 45 52 72 108

Mädchen 56 28 34 36 48 55

n= 657

Die Aufteilung der Jahrgangsspalten wurde von mir nach folgenden Kriterien vorgenommen: Die SchülerInnenjahrgänge 1904- 1914 wurden in der Aufbauphase der Hilfsschule zu ihr überwiesen und erlebten mit Sicherheit die NS- Zeit nicht mehr während ihres Schulbesuchs[84] ; daher die Zeitspanne von 11 Jahrgängen, während die folgenden Spalten nur die Zeitspanne von 5 Jahrgängen haben. Die Jahrgänge 1915-1919 dürften zu einem Teil die Anfangszeit des Nationalsozialismus in der Hilfsschule verbracht haben. Das trifft auch noch auf die Jahrgänge von 1920-1924 zu, bei denen sich schon leicht die verstärkte Zuweisung von Kindern zur Hilfsschule durch die NS- Gesetze bemerkbar machen könnte. Dieser Punkt gilt vor allem für die nächsten beiden Jahrgangsabstufungen, die einen Großteil oder ihre gesamte Schulzeit zwischen 1933 und 1945 hatten. Die Jahrgänge von 1935-1939 erlebten in der Schule nur die letzten Jahre der NSDAP- Regierung bzw. gar nicht mehr, da aufgrund der Kriegsverhältnisse die Kinder von der Einschulung zurückgestellt wurden.
Die soziale Struktur zeigt einen überwiegenden Anteil von Kindern, die aus Arbeiter- und Handwerkerfamilien kommen. Das entspricht derjenigen der
Gesamtbevölkerung in Lohbrügge; der in Bergedorf nur bedingt, da dort auch eine breitere Mittel- sowie eine kleine Oberschicht lebte (vgl. Barghorn- Schmidt). Ein Hilfsschulbesuch aufgrund von Umweltbedingungen (und nicht ‚angeborenem Schwachsinn‘) kann angenommen werden, zumal die Beschreibung der häuslichen Verhältnisse in den Schülerbögen darauf schließen läßt[85]. Eine Vielzahl der SchülerInnen wohnt in den Quartieren, die sich zu den dicht bewohnten Arbeitervierteln (vgl. Dahms; ebenso Barghorn- Schmidt) rechnen lassen, in sehr beengten Wohnverhältnissen mit mehreren (teilweise bis zu zehn) Geschwistern. Teilweise scheinen die Eltern mit der miserablen finanziellen Situation überfordert.
Die geschlechtsspezifische Verteilung der SchülerInnenschaft zeigt in allen Jahrgängen eine eindeutige männliche Überzahl, die ab dem Beginn der Nazi- Herrschaft (Jahrgänge 1925 und aufwärts) eine größere Differenz gegenüber der Anzahl der Mädchen entwickelt und einer kontinuierlichen Steigerung unterworfen ist. Erklären läßt sich dies dadurch, dass- damals wie heute- Jungen bei schlechten Leistungen in der Volksschule meistens ein auffälligeres Sozialverhalten (Agressivität u.ä.) zeigen, während Mädchen meist unauffälliger erscheinen. Belegen lässt sich diese These für diesen Fall damit, dass in den Schülerbögen der Mädchen oft große Schüchternheit als besonderes Charaktermerkmal angegeben ist, bei den Jungen mehr exogene Verhaltensauffälligkeiten. Dadurch fiel es den Lehrkräften der Volksschule natürlich leichter, Jungen ‚abzuschieben‘. Verstärkt wurde dieser Effekt wohl noch durch die Nazi- Ideologie, die ‚gemeinschaftsunfähige‘ und ‚asoziale‘ Kinder noch mehr als zuvor bereit war auszugliedern. Dazu kommen die behördlichen Verordnungen, die von Beginn der NS- Herrschaft an forderten, die schwächsten SchülerInnen von der Volksschule auf die Hilfsschule zu überweisen.
Der starke Anstieg der SchülerInnenzahl ab den Geburtsjahrgängen 1935-1939 hat m.E. die Ursache erstens darin, dass aufgrund der Bombenschäden in Hamburg eine hohe Anzahl von Menschen vorerst im relativ unbetroffenen Bergedorf Unterschlupf fand[86] und zweitens einige Kinder Probleme gehabt haben könnten, die Kriegserlebnisse und damit verbundenen Umstände zu verarbeiten (Kriegstrauma) und daher zu Schulversagern wurden[87]. Letzteres stellt eine Vermutung meinerseits dar, ist aber nicht aus den von mir eingesehenen Akten belegbar.
Im Vergleich zu der SchülerInnenschaft der heutigen Förderschule scheint sich weder die Sozialstruktur noch die Geschlechterrelation der betroffenen Kinder geändert zu haben.

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[84] Dabei muß von einem 8- jährigen Schulbesuch und einer Schulentlassung im Alter von 14-17 Jahren ausgegangen werden.

[85] Angemerkt sei dazu, dass die Kinder der Beamten, Kaufleute, Ärzte und Polizisten zumeist an offensichtlich hirnorganisch bedingten Lernschwierigkeiten litten; die häuslichen Verhältnisse wurden durchweg als wesentlich besser beschrieben im Gegensatz zu den Kindern aus Arbeiterfamilien.

[86] Dies läßt sich aus Notizen aus den Schülerbögen belegen.

[87] Dieses Phänomen läßt sich heute oft bei Flüchtlingskindern aus Kriegsgebieten beobachten.

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